Wenn über das Kulturgut Volksfest gesprochen wird, dann darf ein Exkurs zu den Orgeln nicht fehlen, denn beides ist untrennbar miteinander verbunden. Jahrzehntelang bildeten die Orgeln mit den Karussells, Schaubuden, Kinematographen und andere Belustigungsgeschäfte eine Symbiose, denn was wäre ein Volksfest ohne Musik. In der Blütezeit der Karussellindustrie entwickelten sich die Fahrgeschäfte rasant zu prächtig ausgestatteten Vergnügungsanlagen. Nun passten die kleinen Drehorgeln nicht mehr und schnell steigerte sich die Nachfrage nach großen und wohlklingenden Musikinstrumenten, die eine ganze Kapelle ersetzen konnten. Die neu entstandenen Firmen konstruierten immer größere Orgeln mit umfassender Klangvielfalt und reichhaltig geschnitzten Fronten. Die Rollen- und Kartonnoten lösten nach der Jahrhundertwende die schweren Orgelwalzen ab und erlaubten ausgefeilte musikalische Arrangements beliebiger Länge. So manches Meisterstück konnte bis heute erhalten werden und sind ein Zeugnis jener Zeit. Damals gehörte zu jedem Karussell eine Orgel und sie war der Stolz eines jeden Schaustellers. Es gab schließlich noch keine andere Beschallung auf den Festplätzen und man möge sich einmal vorstellen, wie laut es werden konnte, wenn ein Dutzend großer Karussellorgeln gleichzeitig musizierten.
Im Jahre 1925 wurde auf der Berliner Funkausstellung der erste elektrodynamisch angetriebene Lautsprecher öffentlich vorgestellt. Diese neue Errungenschaft hielt sehr bald Einzug auf den Jahrmärkten und verdrängte in den folgenden Jahren die mächtigen Orgeln von den Festplätzen.
Ähnlich der Karussellindustrie entwickelten sich bedeutende Firmen, die ihre herausragenden Erzeugnisse in der ganzen Welt verkaufen konnten und noch heute bei den Kennern auf der ganzen Welt geschätzt werden. In Waldkirch im Breisgau entstand eine florierende Orgelindustrie, begründet durch den Orgelbauer Ignaz Bruder im Jahr 1834. Die vielseitigen Erfahrungen seiner Orgelbaukunst hat er an seine Kinder und Enkel weitergetragen. So entstanden weitere Orgelbaufirmen wie z.B. Gebrüder Bruder, Wilhelm Bruder Söhne und Alfred Bruder. Neben der großen Bruder-Familie war es vor allem die Werkstatt der Familie Ruth, die Waldkirch einen weltweit "klingenden" Namen gab. Andreas Ruth gründete seine Werkstatt 1841 und spezialisierte sich in den kommenden Jahrzehnten zunehmend auf die für Schausteller zugeschnittene Instrumente. Doch auch in anderen Regionen Deutschlands entstanden führende Produktionsstätten mechanischer Instrumente für die Schaustellerbranche. In Hannover gründete der "Drehorgel- und Orchestrionbauer" Fritz Wrede 1889 seine "Dreh- und Kirmesorgelwerkstätten".
Aber auch die heutige NRW Hauptstadt Düsseldorf beherbergte eine der weltbekannten Werkstätten für den mechanischen Orgelbau, die der Gebrüder Richter. Eduard Richter richtete ab 1874 in Düsseldorf eine Spezialwerkstatt ein, die in den kommenden Jahren immer weiter zu einem stattlichen Firmengebäude erweitert wurde. Am 12. Juni 1943 sanken große Teile Düsseldorfs beim "Pfingstangriff" in Schutt und Asche. Das Bombardement zerstörte auch die Werkstatt und Wohnhaus der Gebrüder Richter.
Einen besonders guten Ruf genießt die Firma Wellershaus, die in Mülheim Saarn ansässig war.
Selbstverständlich haben die verschiedenen Karussell- und Konzertorgeln für die Mitglieder der Historischen Gesellschaft einen ganz besonderen Stellenwert. Mehrere Orgeln der verschiedenen Firmen befinden sich inzwischen im Fundus und werden regelmäßig zur Schau gestellt und natürlich gespielt.
"Vom Karussellpferd zur Raketenbahn" – Geschichte der deutschen Karussellindustrie in Thüringen
Susanne Köpp-Fredebeul, ISBN 978-3-00-061695-2